Eine 13-jährige Schülerin erhielt erst kürzlich ihre Diagnose: Autismus-Spektrum-Störung mit Hochbegabung. Im Gespräch mit der Sonderpädagogin und Lerncoach Barbara Hippler berichtet ihre Mutter vom langen Weg zur Diagnose, den schulischen Herausforderungen und dem Maskieren im Alltag.
Die Herausforderungen des Erkennens bis zur Diagnose
Wie alt ist Ihr Kind und welche Klasse besucht es?
Meine Tochter ist 13 Jahre alt und besucht ein klassisches Luxemburger Lycée. Erst vor 2 Monaten bekam sie die Diagnose Autismus-Spektrum Störung mit Hochbegabung.
Was haben Sie beobachtet, dass Sie eine Diagnose in Erwägung gezogen haben?
Richtig bewusst wurde mir, dass meine Tochter anders war, als sie 5 oder 6 Jahre alt war. Schon als meine Tochter die Vorschule besuchte, bemerkte ich am Nachmittag, dass mein Kind schwere Krisen hatte. Besonders nach langen Tagen in der Vorschule hat sie danach bei Kleinigkeiten eine Dreiviertelstunde gebrüllt. Rückblickend fiel mir auf, dass mein Kind schon als Baby ein sog. „Schreibaby“ war. Zudem konnte sie sich in die Kindertagesstätte überhaupt nicht eingewöhnen, es war jedes Mal furchtbar, wenn sie dort hingehen musste. Seit jeher war sie mit den Kleidungsstücken sehr wählerisch, z.B. wollte sie, was die Strümpfe anbelangt, nur ein bestimmtes Modell, eine bestimmte Marke und nichts anderes tragen. Außerdem fing sie sehr früh damit an, die Etiketten aus den Kleidungsstücken zu schneiden. Das war ihr unangenehm auf der Haut. Schon mit zwei Jahren trug sie keine Pullover mit Bündchen an den Ärmeln, weil das Enganliegende sie störte.
Sie war von Anfang an eine sehr schlechte Schläferin, noch mit zwei Jahren ist sie ungefähr zwanzigmal in der Nacht aufgewacht. Dazu kam, dass der Bruder meines Mannes, der nicht diagnostiziert ist, Verhalten zeigte, dass wir dem Autismus Spektrum zuordneten.
Wissen Sie, was der Auslöser für die Krisen war?
Ich spürte schon früh, da war sie 3-4 Jahre alt, dass es wichtig war, dass meine Tochter von vornherein wusste, wie ihr Tag aussieht, ob Ausflüge, Termine usw. geplant waren. Oder ob wir andere Kinder treffen. Die Krisen entstanden regelmäßig nach einem sehr langen Tag, an dem sie sich anpassen musste, sehr viele soziale Interaktionen, viele Menschen und Lärm um sich hatte. Diese Krisen waren und sind sehr hart für mich und bis heute kann ich nicht gut damit umgehen.
Wie und bei wem bekamen Sie die Diagnose für Ihr Kind?
Schon als unsere Tochter 6 Jahre alt war, kam unsere Familie regelmäßig an ihre Grenzen und es war klar, dass unsere Tochter leidet. Ich nahm zu der Zeit psychologische Hilfe für mich selbst in Anspruch. Mein Psychologe unterstützte mich, eine Diagnose in Richtung Autismus anzuregen. Er empfahl mir als Anlaufstelle die FAL (Fondation Autisme Luxembourg).
Was hat Ihnen die Psychologin der Fondation Autisme Luxembourg (FAL) über Autismus erklärt?
Die Psychologin erklärte mir, dass meine Tochter sehr gut maskieren kann. Wenn sie in eine neue Situation kommt, analysiert sie diese sofort, um zu wissen, was von ihr konkret erwartet wird, wie alles funktioniert. Sie sieht die sozialen Situationen nicht auf der emotionalen, sondern auf der sachlichen Ebene. Das bedeutet, sie ist ein Kind, das außerhalb seines Zuhauses sehr angepasst ist, sie ist kein Kind, das schreit und mit Stühlen wirft. Sie kann sich für eine begrenzte Zeit sehr zusammennehmen. Während der Schulzeit ist sie nicht aufgefallen. Auch den Müttern ihrer engen Freundinnen, bei denen sie regelmäßig zu Besuch war, ist nie etwas aufgefallen. Vielleicht wären Anregungen von der Schule gekommen, eine Testung zu machen, wenn sie dort auffälliger gewesen wäre.
Welche Erfahrungen haben Sie mit der FAL gemacht?
Als erstes hatte ich ein ca. einstündiges Telefonat mit einem Psychologen. Danach musste ich mehrere Fragebögen bezüglich des Verhaltens meiner Tochter ausfüllen und zurückschicken. Nach einer Wartezeit von über 2 Jahren wurden wir wieder von der FAL kontaktiert und sollten zwei Termine mit dem Kind bei einem Psychiater, der mit der FAL arbeitet, zur Testung machen, unter anderem um einen IQ-Test durchzuführen.
Direkt im Anschluss gab es zwei weitere Gesprächstermine bei der Psychologin in der FAL, einmal ohne meine Tochter, einmal in ihrem Beisein. Bei der zweiten Testung in der FAL wurde meine Tochter dabei gefilmt.
Bekamen Sie von der FAL Hilfen oder Empfehlungen, was Sie machen können?
Während des Diagnosegesprächs wurde ich über die allgemeinen Angebote der FAL informiert:- An Konferenzen teilnehmen
- Unterstützung für Zuhause
- Psychologische Hilfe für Angehörige
- Unterstützung bei schulischen Problemen durch Mitarbeiter der FAL , die den Kindern und Eltern bei Gesprächen mir den Lehrer*innen zur Seite stehen.
- Ferienaktivitäten für Kinder und Jugendliche im Spektrum
- Austauschgruppen
Konkret gab es seit der Diagnose meiner Tochter nur ein paar relativ kurzfristig angesagte Angebote zu einem Atelier de recontre – ein Treffen mit anderen Eltern zu verschiedenen Themen. Außerdem Einladungen zu Wochenenden in Freizeitparks und Ferienaktivitäten.
Was hätten Sie sich von der FAL gewünscht?
- Ich habe mich nach der Diagnose ziemlich alleingelassen gefühlt. Ich hätte mir gewünscht zeitnah von der FAL kontaktiert zu werden, z.B. mit einem konkreten Plan, welche Unterstützung für uns als Familie in Frage kommt
- Angaben zu Psycholog*innen, die sich im Spektrum auskennen
Welche Anlaufstellen, Bücher oder Ressourcen haben Ihnen als Mutter geholfen ? Welche würden Sie weiter empfehlen?
- FAL für die Diagnose: die Psychologin, die für die Diagnose meiner Tochter zuständig war, war sehr professionell und empathisch
- Instagram-Accounts von Betroffenen und betroffenen Eltern: bunte_herbstkinder, nikie autie, ursula estomac (alle deutschsprachig)

Schulischer Weg und Unterstützung
Wie war die Grundschulzeit für Ihre Tochter?
Die ersten zwei Jahre waren hart, da meine Tochter eine strenge, wenig empathische Lehrerin hatte. Allgemein wurde viel Druck ausgeübt. Die Kinder durften z.B. nicht während der Schulstunden auf Toilette gehen und sie hatte dann häufig eine nasse Hose. Die Jahre danach hatte sie einen Lehrer, der ohne Druck arbeitete und die Kinder ein bisschen lockerer ließ. Dennoch mussten sie viel üben und vorbereiten für Tests. Beim Üben zu Hause verweigerte meine Tochter meist über eine halbe Stunde die Arbeit und hatte eine Krise. Wenn sie sich dann entschlossen hatte zu arbeiten, ging alles wie von selbst.
Erst vor zwei Monaten hat Ihre Tochter die Diagnose Autismus Spektrum mit Hochbegabung bekommen. Was passierte in der Schule, wenn sie solche Krisen hatte?
Die Krisen hatte meine Tochter niemals in der Schule, sondern nur zu Hause. Außerhalb der Familie gibt sie sich viel Mühe, sich anzupassen und zu maskieren.
Wie kommt ihre Tochter im Lycée zurecht?
Eigentlich sehr gut. Sie hat Freundinnen, sie hat gute bis sehr gute Noten. Was ihr v.a. leicht fällt, sind die Fächer, in denen es um Regeln und Logik geht (Mathematik, Grammatik). Bei Textanalysen, bei denen sie auch mal zwischen den Zeilen lesen oder die Gefühle der Protagonisten analysieren muss, kommt sie an ihre Grenzen. Um ihr bei den Textanalysen unter die Arme zu greifen, habe ich sie gecoacht. So habe ich ihr Sätze angegeben, mit denen man auf eine typische Art und Weise Gefühle ausdrücken kann. Beispielsweise bei Angst: „Mir lief es kalt den Rücken herunter“. Sie merkt sich, welche Sätze in welcher Situation passend sind und wendet sie dann an.
Die Hilfestellungen, die Sie beschreiben, sind pädagogische Mittel, die die Lehrkräfte anbieten könnten in ihrer täglichen Unterrichtsarbeit mit autistischen Kindern.
Ja. Sobald ich meiner Tochter solche Leitfäden oder Hilfen angeboten habe, konnte sie die Aufgaben beim nächsten Mal problemlos lösen.
Gibt es Schulen in Luxemburg, die für Kinder im Autismus Spektrum sensibilisiert sind?
Von der FAL habe ich folgende Liste bekommen (weiterführende Schulen):
- Atert-Lycée Redange, www.alr.lu
- Lycée Bel-Val, www.lbv.lu
- Lycée Josy Barthel Mamer, www.ljbm.lu
- Lycée Nic Biever Dudelange, www.lnbd.lu
Was wünschen Sie sich von den Schulen?
Aktuell ist die Schule meiner Tochter von der Diagnose nicht informiert. Ich wünsche mir von den Schulen und vor allem Lehrkräften, sich mit dem Thema Autismus auseinanderzusetzen und Informationsveranstaltungen wahrzunehmen. Eine Sensibilisierung für das Thema empfinde ich als wichtig auch auf Seiten der Mitschüler*innen.
Was mögen Sie an Ihrer Tochter besonders?
Sie weiß genau, was sie will und was sie nicht will. Sie ist durchsetzungsfähig und gibt nicht auf, wenn sie etwas erreichen will. Sie ist sehr witzig und hat immer 1000 Ideen, es wird nie langweilig mit ihr.
Vielen Dank für das sehr offene Gespräch. Ich hoffe, dass wir einige Leser*innen auf Neurodiversität bei Mädchen aufmerksam gemacht haben und wollen Mut machen, neurodivergente Menschen zu verstehen und sensibel zu handeln.
14.02.2025